Die Geschichte von Shiro Kuramatas Nara Tisch


Bruchstücke von Erinnerungen

Von Wava Carpenter

Einer der Gründe, warum wir die Kategorie ‚Stories’ kreiert haben, war unser Wunsch, die Geschichten davon zu erzählen, wie unsere liebsten Designobjekte entstanden sind. Objekte haben – genau wie Menschen – Biografien, die mit den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Netzwerken verwoben sind, aus welchen sie hervorgegangen sind und in welchen sie anschließend zirkulierten. Nichts lässt uns den wahren Wert eines Designobjektes so sehr schätzen und macht es so lebendig wie die Geschichten, die in ihm stecken.

Eine meiner Lieblingsgeschichten hinter einem Objekt ist die von Shiro Kuramatas Nara Tisch. Dieser Tisch nahm an den rebellischen kulturellen Umbrüchen der 1980er Jahre teil, aber sein Schöpfer war ein Freigeist, der nichts mit Gruppenmentalitäten zu tun hatte. Nara verkörpert und überschreitet den ikonoklastischen postmodernen Gedanken mit seiner ruhigen Einfachheit, die sich nicht auf eine bestimmte Bewegung oder Epoche festlegen lässt.

Der Tisch besteht aus einem Material, das Kuramata selber erfunden hat: eine besondere Art von Terrazzo, dem er den Namen Star Piece gegeben hat. Im Gegensatz zu traditionellem Terrazzo mit Mamorstücken, enthält Star Piece Glasscherben, die in ein Substrat aus Beton und synthetischen Stoffen eingesetzt und anschließend poliert werden, bis sie seidig glänzen. Die genauen Umstände dieser Erfindung sind unklar, aber in einem Artikel, der in dem Magazin Shotenkenchiku (Mai 1983) veröffentlicht wurde, erklärt Kuramata, dass die Idee 1982 entstand, als er traditionelle Terrazzo-Böden in den Innenräumen, die er für das Roppongi Axis Gebäude in Tokyo entwarf, verlegte. Zur gleichen Zeit experimentierte er für ein anderes, unabhängiges Projekt mit Glas, woraus eine größere Menge an Abfällen entstand. Als er den Gedanken hatte, diese beiden Materialien zu kombinieren, lud er einen Haufen aus Glasscherben in einen Lastwagen und fuhr ihn zu befreundeten Herstellern, die bereit waren, seine Inspiration Wirklichkeit werden zu lassen.

Kuramata war von dem Ergebnis so beeindruckt, dass er im Laufe des Jahres 1983 mehrere Möbelstücke und Innenräume entwickelte, die auf Terrazzo basierten. Er organisierte sogar eine gesamte Ausstellung, die diesem Material gewidmet war, in der Designgalerie 1953 in Tokyo. Er schuf ganze Räume aus diesem Material und verwandelte diese durch Böden, Wände und Möbelstücke in ein glitzerndes, gesprenkeltes visuelles Erlebnis, welches das Gefühl von Dreidimensionalität auflöste. Star Piece, über das Karamata gesagt hat, es repräsentiere „Bruchstücke von Erinnerungen,“ wurde mit der Zeit zu einem Muster, das er auch für Oberflächen anderer Produkte aus anderen Materialien verwendete. Das Motiv wurde bald als seine Signatur betrachtet.

Der westlichen Welt stellte Kuramata sein Star Piece Terrazzo 1983 in Form einer Serie aus Tischen vor – Nara, Tokyo und Kyoto – welche für die postmodernen Vorreiter der Memphis Design Group produziert wurden. Für Ettore Sottsass, bereits damals eine Legende, und für eine Gruppe junger Designer war das Memphis Projekt in Mailand in den späten 1980ern ein Gegenmittel zu dem, was für sie Designarbeiten, die aus überholten modernen Prinzipien hervor gingen, an fader Gleichheit und Leere ausdrückten. Ab den 1970ern war Italien eine Brutstätte für konzeptbasierte Designkollaborationen, die das Ziel verfolgten, die Vorherrschaft des Funktionalismus und die Beständigkeit Bauhaus-inspirierter Dogmen durch eine ausdrucksvollere, lebendigere und letztendlich stärker menschenzentrierte Designsprache zu ersetzen. Memphis waren nicht die ersten, die gegen die Moderne rebellierten, aber das Projekt erreichte ein größeres Publikum und hatte größeren Einfluss als seine Vorgänger. Dies lag unter anderem daran, dass Sottsass eine Reihe an internationalen Designern anwarb, darunter auch Kuramata, die in Designkreisen angesehen waren und in deren Arbeiten er eine Verwandtschaft zu den konzeptionellen Grundlagen der Gruppe sah.

Zu Beginn der Postmoderne entwickelte sich im Westen ein wahrer Kult um japanische Designer. Insbesondere Kuramatas Arbeiten fanden bei der europäischen Design-Intelligenz großen Anklang, da diese davon beeindruckt war, wie er neue Anwendungen für industrielle und alltägliche Materialien fand und überraschende Wendungen mit minimalistische Formen verband. Er erhielt den Ruf, paradoxe Objekte zu kreieren – gleichzeitig rational und mysteriös, zurückhaltend und unbeschwert. Sottsass sah in Kuramatas alchemistischen Arbeiten ein Bild der Zukunft und rekrutierte ihn sofort für das Memphis Projekt.

Kuramata und Sottsass bewunderten sich gegenseitig und beide behaupteten, von dem jeweils anderen beeinflusst worden zu sein.

Kuramata und Sottsass bewunderten sich gegenseitig und beide behaupteten, von dem jeweils anderen beeinflusst worden zu sein. Ihre Gesamtwerke sind gleich wichtig, aber dennoch auf bezeichnende Weise unterschiedlich. Während der 1980er spiegelten Kuramatas Arbeiten das Interesse der Memphis Gruppe an neuen, synthetischen Materialien, ihre Faszination für kräftige dekorative Effekte und ihre Vorliebe für indirekte Bezüge auf die Designgeschichte. Doch obwohl Kuramatas Arbeiten diese emblematischen Eigenschaften der Postmoderne umfassten, teilten sie nicht die zynische Grundlage der Bewegung. Seine ruhigen Kreationen unterschieden sich zudem von einer lauten Ästhetik, die zumeist gleichzeitig Kritik und Protest ausdrückt. Während andere Memphis Designs Aufmerksamkeit einfordern warten die von Kuramata geduldig darauf, bemerkt zu werden.

Statt zu versuchen die Prinzipien der Moderne zu zerstören, entdeckte Kuramata die Schönheit der Unvollkommenheit und Unordnung. Er wollte alltägliche Erfahrungen nicht erneuern, sondern erhöhen. Ich habe mich vor Kurzem an die Designerin Johanna Grawunder gewandt, welche mit Sottsass während der Memphis Zeit zusammengearbeitet hat, um herauszufinden, ob sie irgendwelche Erkenntnisse zu Kuramatas Arbeiten hat. Sie hatte Folgendes zu sagen: „Ich kann mich erinnern, dass Ettore Shiro sehr liebte und sich selbst in Shiros Arbeiten wiederfand – sehr expansiv, sehr leicht und transparent. In Shiros Gegenwart war Ettore sehr sanft, da Shiro eine sanfte Person war.“ Für mich ist das eine Lektion bezüglich der Macht von Subtilität.

  • Text von

    • Wava Carpenter

      Wava Carpenter

      Seit ihrem Studium in Designgeschichte an der Parsons School of Design hatte Wava schon in vielen Bereichen der Designkultur den Hut auf: sie lehrte Designwissenschaft, kuratierte Ausstellungen, überwachte Auftragsarbeiten, organisierte Vorträge, schrieb Artikel und erledigte alle möglichen Aufgaben bei Design Miami. Wava lässt den Hut aber im Büro – auf der Straße bevorzugt sie ihre Sonnenbrille.
  • Übersetzung von

    • Annika Hüttmann

      Annika Hüttmann

      Annika ist umgeben von skandinavischem Design zwischen Norddeutschland und Südschweden aufgewachsen. Für ihr Literaturstudium zog sie nach Berlin und entdeckte dort ihre Leidenschaft für deutsche Vasen aus den 1950ern-70ern, von denen sie inzwischen mehr als 70 Stück besitzt.

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