Neue Designs, die Altes preisen


Vintage im Remix

Von Anna Carnick

Selbst die leidenschaftlichsten Anhänger von Vintage Design – so wie wir - müssen anerkennen, dass, egal wie hochwertig, detailliert und schön sie hergestellt wurden, nicht alle Objekte der Vergangenheit einen Platz in unserer heutigen Moderne finden. Möbelstücke werden meist für einen bestimmten Zweck entworfen, aber ändert sich unser Alltag, so ändern sich auch die Anforderungen an unsere Einrichtungsgegenstände und dabei bleiben einige in ihrem Nutzen auf der Strecke und ohne ein Zuhause zurück. Dieses Schicksal ist besonders herzzerreißend, wenn es sich dabei um ein außergewöhnliches Stück Handwerkskunst handelt, ein Produkt, welches durch jemanden außerordentliche Sorgfalt und Hingabe entstanden ist.

Die nun folgenden Fälle sind herausragende Beispiele dafür, dass durch Recherche und die Verbindung von kreativem Design und handwerklichem Können alten, bereits ausgemusterten Stücken, die viel zu schön sind, um sie dem Zahn der Zeit zu überlassen, neues Leben eingehaucht werden kann. Den geübten Augen und dem Vorstellungsvermögen der Designtalente, die hinter den Aufarbeitungsprojekten stehen, im Alten das Unerwartete zu entdecken, ist es zu verdanken, dass diese verlorenen Schätze gerettet wurden. 


Vintage Kilim Compositions von F.J. Hakimian

Etwa vor einem Jahrzehnt ist Joseph Hakimian – einer der weltweit renommiertesten  – zusammen mit einem Freund in die Bergregionen des Iran und der Türkei gereist. Dabei stießen sie auf eine weite Palette an erdfarbenen, handgewebten Kelim Teppichen (auf Farsi auch bekannt als jehazi oder auf Türkisch als çeyiz), die ursprünglich von jungen Frauen der Nomadenstämme in Nordafrika und im Mittleren Osten gewebt wurden und als Mitgift der Braut genutzt wurden. Nach der Hochzeit schmückte man damit die mobile Behausung aus. Die Teppiche maßen meist ein bis zwei Fuß in der Breite und bis zu 80 Fuß in der Länge. Die simplen, aber wunderschönen Stücke wurden aus handgesponnener, ungefärbter Wolle hergestellt, die von den hauseigenen Schafen gewonnen wurde. Diese Teppiche waren, um es mit Hakimanis Worten auszudrücken „Meisterwerke des Designs“.

 Bereits vor dieser Begegnung hatte Hakimian oder Joe – wie er sich selbst bevorzugt nennt – den Großteil seiner langen und aufsteigenden Karriere antiken europäischen und orientalischen Teppichen gewidmet, ebenso wie der skandinavischen Webkunst. Berührt von den komplexen Kelim Teppichen, von deren Eleganz, von der individuellen Handschrift ihres Herstellers und von ihren Farbvariationen, die sich direkt auf die mehr als hundert Jahre aufrecht erhaltenen ästhetischen Vorstellungen dieses Nomadenvolkes bezogen, begann Hakimian damit, diese Teppiche zu sammeln. 

Nur wenig später beschloss Hakimian, dass der beste Weg, diese Stücke, die ihm so viel Freude bereiteten, mit allen Interessierten zu teilen, darin liegen würde, sie mit zeitgenössischen Flickarbeiten zu verbinden und durch neue Proportionen anzupassen. Stetig von modernistischen und althergebrachten Designs inspiriert, nahm sich Hakimian dieser Stücke an und überführte sie in ein Design, welches mehr dem Geschmack und den Bedürfnissen der heutigen Zeit entspricht. „Ich wollte Ost-trifft-West.“, so Hakimian. Er holte sich dazu 18 europäische Weber in sein Studio in der 57th Street in Manhattan, um an den Teppichen zu arbeiten. Das Ergebnis reicht von mutigen geometrischen Mustern bis zu ruhigeren, natürlicheren Entwürfen. 

Laut Hakimian sind seine Stücke besonders bei der Prominenz aus Kunst- und Design-Szene, bei Innenarchitekten, Architekten, Berühmtheiten und überhaupt in den höheren Gesellschaftsschichten extrem beliebt und schnell vergriffen. „Von Beginn an kauften Kunsthändler seine Teppiche und hängten sie neben Gemälde. Sie passen einfach sehr gut in einen Raum mit seriöser Kunst.“ Die Philanthropin, Sammlerin und Ehrenpräsidentin des MoMa Agnes Gund hat einen dieser Teppiche in ihrem Wohnzimmer. „Die Kunst in ihrem Apartment variiert ständig. Sie verleiht permanent Kunst an diverse Museen, also benötigt sie etwas Beständiges, Neutrales, was die Leute nicht von der Kunst an ihren Wänden ablenkt. Also entschied sie sich für diesen Teppich.“

 

Lace N°1 von COMA Studio

Auf der anderen Seite des Meeres konzentriert sich Wiens COMA Studio auf die unzähligen Designmöglichkeiten, die das Material Glas bietet. Arbeitspartner Magdalena Zeller und Cornelis van Almsick besitzen ein Weltklasse Talent in der Umwandlung transparenter Bruchstücke aus der Designgeschichte zu zeitgenössischen, skulpturalen Installationen und Beleuchtung. Das Duo wurde besonders von Glaselementen inspiriert, die aus einem zentralen historischen Denkmal geborgen wurden: dem heute nicht mehr bestehenden aber einst so glamourösen Hotel Bristol in Meran, Italien. Das Hotel ist ein luxuriöses Beispiel der Nachkriegszeit und der verwirklichte Traum eines reichen Schiffsbauers mit dem Namen Arnaldo Bennati. Das Bristol galt als das schickste, moderne Hotel in Europa und war seinerzeit eine Sensation. Im Jahr 1954 wurde es durch Sofia Loren eröffnet. Der renommierte Architekt Marino Meo und die derzeit besten Designer und Handwerker wurden durch Bennati mit dem speziell gefertigten Mobiliar und Dekoration, die jeden Winkel des Bristol ausstatteten, beauftragt. Doch die Beleuchtungskörper haben ihnen die Show gestohlen. Ihre Pracht war das Ergebnis des Glasexperten Flavio Poli aus Seguso Vetri d’Arte in Murano.

Inauguration of the Hotel Bristol by Sofia Loren, 1954. Photo © Siragusa & Amt für Film & Medien, Autonome Provinz Bozen - Südtirol

In den 1970ern, nach 20 Jahren erfolgreichem Geschäft, folgten für das Hotel Bristol harte Zeiten und es wurde 1991 schließlich zur Schließung gezwungen. Das Gebäude wurde 2006 abgerissen. Ein paar Jahre später trifft COMA zufällig auf die übrig gebliebenen Bauteile der Beleuchtung. Von der Schönheit der Stücke und ihrer spannenden Geschichte inspiriert, beschlossen die Designer, die Leuchten zu überarbeiten und entwarfen Lace, eine leichte und doch aufwendig ausgeklügelte, montierte Lichtanlage. Zeller erklärt: „Wir haben uns das Glas und seine Eigenschaften, Beschaffenheit und Konfigurationsmöglichkeiten angesehen. Wir wollten etwas leichtes, etwas Wolkenähnliches entwerfen, das die Qualität des Glases betonen und seine besten Eigenheiten hervorheben würde . . . Bei der Umgestaltung [der Glasteile] zu neuen Gebilden, arbeiten wir mit den dem Glas innewohnenden Eigenschaften und geben ihnen sicherlich einen modernen Twist, ohne etwas aus ihnen zu machen, das sie nicht sind.“

 Und weiter meint sie: “[Wir versuchen immer] den Teilen [aus Glas] neues Leben einzuhauchen, indem wir moderne Interpretationen entwerfen, die starke skulpturale Eigenschaften haben, die aber gleichzeitig vollkommen funktionsfähige Objekte darstellen, die im alltäglichen Gebrauch Verwendung finden. Indem wir neue Beleuchtungstechnik anwenden, bringen wir Eigenschaften des Glases zum Vorschein, die vorher nicht sichtbar waren. Ich denke also, wir schreiben die Geschichte neu und machen sie zu unsere eigene. Dabei sind wir uns der Geschichte der Stücke sehr bewusst und sind dafür sehr dankbar. Letzendlih ist die Qualität der Elemente zeitlos. Die Objekte, die wir entwerfen, sollen genau diese Tatsache betonen.“

Lace ist die zweite COMA Installation, die aus Bristols Artefakten entstanden ist. Und nach Zeller, wird es nicht die letzte sein. „Wir haben bereits etwas vor. Momentan arbeiten wir mit etwa 260 blassrosa Blumen mit besonders bezaubernden Details, die in eine große Deckenleuchte eingebaut werden.“

 

Mixers und Stellar von Marina Dragomirova und Iain Howlett

Für Marina Dragomirova stellen gefundene Objekte ebenso eine Fülle an Inspiration dar. In Bulgarien geboren und in London angesiedelt, arbeitet die Designerin häufig mit Werken, die sie in Secondhandshops entdeckt. Diese funktioniert sie zu Mobiliar, Glasarbeiten und Keramik um. Dragomirova studiert die Formen und Eigenschaften von allen möglichen außerordentlichen (und teilweise auch mysteriösen) Funden, indem sie die Techniken ihrer Herstellung untersucht und über ihre jeweilige einzigartige Geschichte nachsinnt—und auch über die „Geschichten der ehemaligen Besitzer“. Ob diese Hintergrundgeschichten nun bekannt oder abgeleitet sind, oder ob die Designerin sich diese bei der Arbeit in ihrem Studio in Shoreditch lediglich vorstellt, all ihre durch Handwerk inspirierten Designers strahlen ein Gefühl von Vermächtnis aus. Dragomirova vermerkt, die Kombination von Vergangenheit und Gegenwart führe „manchmal zu einem überraschenden Resultat“.

Sehen wir uns beispielsweise ihre Mixers Serie an, eine Kollektion von Weingläsern mit austauschbaren Griffen und Behältern. Dragomirova durchstöbert Flohmärkte und Gebrauchtwarenläden, deren Umsatz für wohltätige Zwecke bestimmt sind, nach herausragenden Einzelstücken in Form von Vintage Gläsern. Diese schneidet sie anschließend per Hand und verbindet sie mit einem einfachen, Schmuckähnlichen, magnetischen Gelenk—sodass falsch zugeordnete Einzelstücke als zusammengestelltes, heterogenes Set harmonieren können. Seit 2011 produziert die Designerin die Sets in kleiner Auflage. Dank ihren universellen Gelenken, sind die Gläser jeder einzelner Mixers Set miteinander kompatibel. (Die besonderen Sets, die Dragomirova für uns entwarf, die regenbogenfarbenen Mixer #1,  #2 und #3, bestehen jeweils aus 6 Ober- und Unterseiten—gesammelt auf den Reisen de Designerin durch Bulgarien, Dänemark und Tschechien—das bedeutet, dass es für jedes Set 36 mögliche Kombinationen gibt. Mehr Sets bedeuten natürlich mehr Möglichkeiten der Zusammenstellung). Für Dragomirova besitzt jedes Stück aus der Mixers Serie “Erinnerungen geselligen Beisammenseins und gemeinsamer Geschichten.“ 

Part of the Stellar series by Marina Dragomirova and Iain Howlett Photo courtesy of Marina Dragomirova

Ähnlich bereichern die Geschichten ihrer Bestandteile auch die Stellar Kollektion. Sie sind das Nebenprodukt von Besuchen bei Secondhandshops, als sie nach Materialien für die Mixers Serie Ausschau hielt. Mit dabei war Iain Howlett, der im selben Studio arbeitet. Diese einzigartigen Lampen kombinieren Vintage Kristallobjekte (aufgrund ihres „lichtbrechenden optischen Reizes“ ausgewählt) mit fortgeschrittener LED Lichttechnik. Die Designer lernten sich als Studenten des Londoner RCA kennen und haben seitdem an mehreren Projekten zusammen gearbeitet. Sie ließen sich von den wunderschönen, oftmals eigenartigen Stücken aus Glas inspirieren und von der „unerwarteten Harmonie“, die eine Verbindung verschiedener Stücke ergab—der alten und der neuen.

Nach Howlett sind “Flohmärkte und Antiquitätenläden wie Museen lokalisierter Materialkultur. Nur darf man die Ausstellungsstücke mit nach Hause nehmen. In Sofia haben wir beispielsweise Stücke sowjetischen Glases gefunden, das verlassenen kommunistischen Gebäuden entnommen wurde. In Kopenhagen sind klassische Skandinavische Stücke aus den 70er Jahren in sehr gutem Zustand zu finden. In London finden wir oftmals Art Deco Originale, altes Viktorianisches Glas und gelegentlich auch das ein oder andere unerwünschte Argos Stück, das es ebenfalls in das Gemenge schafft. Manche der Gläser fallen preislich sehr günstig aus und manche sind sehr wertvoll, was das Schneiden und Bohren sehr nervenaufreibend macht!“

Für all diese Designer ist der spannendste Aspekt mit Vintage Objekten zu arbeiten, die Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart und die echten und imaginierten Geschichten, die diesen Prozess begleiten. Denn genau das lässt die Endprodukte mit dem Betrachter sprechen—das Gefühl einer geschichtlichen Verbindung. Wie Dragomirova verrät: “Jedes Einzelstück ist aus multiplen Schichten Leben aufgebaut.”

  • Text by

    • Anna Carnick

      Anna Carnick

      Als ehemalige Redakteurin bei Assouline, der Aperture Foundation, Graphis und Clear feiert Anna die großen Künstler. Ihre Artikel erschienen in mehreren angesehenen Kunst- und Kulturpublikationen und sie hat mehr als 20 Bücher herausgegeben. Sie ist die Autorin von Design Voices und Nendo: 10/10 und hat eine Leidenschaft für ein gutes Picknick.