Wieki Somers erzählt von Mitate, ihrer neuesten Lampenkollektion


Licht aus dem Osten

Von Anna Carnick

Studio Wieki Somers hat aus dem Konzept des magischen Realismus eine Karriere gemacht, indem sie ganz selbstverständlich magische Elemente in ihre Arbeit und ihre Welt einfließen lassen. Inspiriert von Bräuchen und Ritualen fügen die in Rotterdam ansässigen Gründer Wieki Somers und Dylan van den Berg alltäglichen Objekten etwas Wunderbares hinzu. Unter ihren Händen wird aus einer gewöhnlichen Garderobe ein Karussell (Merry-go-round Coat Rack, Boijmans van Beuningen Museum, Rotterdam, 2009) und aus einer Badewanne wird ein seeklares Schiff (Bathboat, 2005).

In den letzten Jahren hat das Duo seine Liebe zu japanischer Kultur, Ästhetik und Handarbeit entdeckt, reiste zu unterschiedlichen Anlässen in das Land und zog zwischen 2011 und 2012 sogar für einige Monate mit seinem Studio nach Tokyo. 2013 stellten sie in der Galerie Kreo in Paris Mitate vor, eine Kollektion und Ausstellung, die auf ihren Erfahrungen und Recherchen beruht.

Auf japanisch beschreibt „mitate” eine vielschichtige, komparative Herangehensweise an eigentlich gewohnte Objekte, was den Beobachtern erlaubt, einen Gegenstand mit neuen Augen zu sehen, um ihn neu zu erleben. In Galerie Kreos jüngster Ausstellung treffen wir auf sieben riesige, ätherische Lampen (jede von ihnen ist ungefähr 180 cm hoch), die von unterschiedlichen Elementen der japanischen Samurai-Kultur inspiriert wurden—insbesondere von pracht- und prunkvollen Samurai-Flaggen aus dem 16. Jahrhundert— und wie Standwachen über die Galerie verteilt sind. Die Serie besteht aus einer Reihe von Materialien, welche von washi Papier und metallischen Stoffen bis hin zu Glasfaser, Goldfolie, Magneten, Rosenholz und Messingrohren reichen.

Neben den Samurai-Einflüssen sind in Mitate eine Vielzahl anderer kultureller Referenzen erkennbar, wie beispielsweise Designs, die von dem Stoff inspiriert wurden, den Geishas benutzen, um ihre Haut vor der Sonne zu schützen (Black Hole Lamp), Steingärten (Cord Lamp) und sogar die traditionelle Geisha oder „Hutmädchen“ Puppe (Three Shields Lamp). Und während die Designer in der vielschichtigen Natur jedes Stückes schwelgen, betont Somers, dass es am Besten ist, einige der Komponenten von Mitate nicht zu enthüllen, um uns Raum zu geben, Gewohntes selber neu interpretieren zu können und unserer Fantasie freien Lauf zu lassen.

Wir sprachen mit Gründerin Wieki Somers.

Wieki Somers © Heidi de Gier
Anna Carnick: Inwiefern haben Ihre Erfahrungen in Japan Ihre Arbeit inspiriert oder beeinflusst?

Wieki Somers: Wir sind bereits mehrmals nach Japan gereist. Wir sind mit der Hoffnung nach Japan gekommen, die Bedeutung von Ritualen unserer Zeit zu untersuchen und ihnen eine neue Form und Bedeutung zu geben. Die japanische Kultur und ihre Traditionen und Bräuche haben uns schon immer fasziniert: Das Ausmaß an menschengemachter Landschaft, die zwiespältige Liebe zur Natur, die raffinierte und durchdachte Gestaltung von Produkten und Einrichtungen, die Achtung vor Handwerkskunst, das Feiern der Jahreszeiten, nichts dem Zufall überlassen zu wollen, das Bewusstsein der Leute für ihre Bräuche und Umwelt und so weiter. Viele dieser Aspekte finden wir in unserer Arbeitsmethode wieder.

...die Art, auf der das Licht auf die Lackarbeit fällt, kann uns an große Handwerkskunst erinnern Wir sind bereits mehrmals nach Japan gereist. Wir sind mit der Hoffnung nach Japan gekommen, die Bedeutung von Ritualen unserer Zeit zu untersuchen und ihnen eine neue Form und Bedeutung zu geben. Die japanische Kultur und ihre Traditionen und Bräuche haben uns schon immer fasziniert: Das Ausmaß an menschengemachter Landschaft, die zwiespältige Liebe zur Natur, die raffinierte und durchdachte Gestaltung von Produkten und Einrichtungen, die Achtung vor Handwerkskunst, das Feiern der Jahreszeiten, nichts dem Zufall überlassen zu wollen, das Bewusstsein der Leute für ihre Bräuche und Umwelt und so weiter. Viele dieser Aspekte finden wir in unserer Arbeitsmethode wieder.

In Japan wird alles mit Präzision und Achtung vor der Handwerkskunst gemacht, selbst wenn es nur etwas Vorübergehendes ist. Anscheinend kann dies innerhalb einer mächtigen Konsumgesellschaft existieren. Die Handwerkskunst lässt sich darin finden, wie die Leute ihr Essen zubereiten und servieren, im Produktdesign, in der Architektur, in allem. Im Gegensatz zu den Niederlanden, wo viele Handwerke verloren gegangen sind, werden sie in Japan als Teil der Kultur gepflegt.

Aufgrund unserer Liebe zur Handwerkskunst haben wir unterschiedliche Handwerke näher betrachtet. Wir waren bei einem Bambus-Workshop; wir haben Arbeitsplätze in Wajima, dem Walhall für Lackarbeiten, besucht; wir waren in einer Werkstatt im Norden Japans, die für die alten Zedern bekannt ist, die in Bento Boxen und andere Produkte verwandelt werden. Auf unserem Weg in den Norden verbrachten wir Stunden damit, durch einen Wald voller uralter Zedernbäume zu wandern. Dann kletterten wir auf die Spitze eines Berges, wo wir bei Mönchen übernachteten und in einer abgelegenen heißen Quelle inmitten von Nebel und Schnee badeten...Nicht schlecht für eine Forschungsreise!

Zeichnungen © Wieki Somers
ACHat Sie die Kultur und Geschichte Japans schon immer fasziniert oder ist das eine relativ neue Leidenschaft?

WS: Bevor ich Japan besuchte gab es einige Geschichten, die mich neugierig auf die japanische Kultur machten. Eins der Bücher, das ich während meiner Zeit an der Akademie in Eindhoven las, war das nostalgische Essay von Jun’ichirō Tanizaki. In seinem Buch Lob des Schattens beschreibt er auf konservativer und verständnisvoller Art, wie Alltagsgegenstände aus der japanischen Kultur zunehmend von Einflüssen aus der modernen Westlichen Kultur verunreinigt werden, zum Beispiel durch die riesige Menge an elektrischem Licht. Er ist davon überzeugt, dass die Menschen im Osten versuchen, Freude aus den Dingen zu ziehen, die sie umgeben, während die Leute im Westen Freude daraus ziehen, ihre Umwelt ständig zu verbessern und zu verändern. Suppe aus einer lackierten Schale zu trinken unterscheidet sich sehr davon, diese aus einer weißen Porzellanschale im westlichen Stil zu trinken.

Als ich von meiner ersten Reise nach Japan zurückkam und wieder in einer Umgebung arbeitete, in der jeder Quadratmeter konstruiert wurde, verstand ich immer besser, was Kenya Hara in seinem Buch Weiss über die Bedeutung von ‚Leere’ im japanischen Design geschrieben hat. Seiner Meinung nach ist dies der Ursprung der japanischen Ästhetik, die für ihre Schlichtheit und Subtilität bekannt ist: ‚Leere betont die Kraft durch Potenzial gefüllt zu werden.’ Eine leere Schale, die nicht benutzt wird, muss für den Betrachter nicht leer sein. Es gibt da immer etwas. Vielleicht ist das eine imaginäre Interpretation, aber die Art, auf der das Licht auf die Lackarbeit fällt, kann uns an große Handwerkskunst erinnern.

AC: Ihre Arbeit beinhaltet häufig kulturelle Bräuche und interpretiert diese neu. Woher denken Sie, kommt diese Neigung?

WS: Wir fragen uns ständig, was die Dinge um uns herum sind und was sie sein könnten. Wir beobachten gewöhnliche Situationen und Gebräuche; wie sich Menschen zu Dingen verhalten und die Assoziationen, die mit unterschiedlichen Dingen verbunden sind. Und wir sind umso begeisterter, wenn diese Gebräuche zu Ritualen werden.

Dutzende Apps, Nachrichten, Maschinen, Reklamen und andere Medien schreien nach unserer Aufmerksamkeit. In dieser Kakophonie verlieren wir schnell den Fokus auf die Sachen, die wirklich wichtig für uns sind. Vielleicht bringen Rituale wieder Fokus und Aufmerksamkeit in unser hektisches Leben. Sie ermöglichen eine stärkere Verbindung zu uns selber, zueinander und zu unserer Umwelt. Die repetitive Beschaffenheit von Ritualen macht sie mit der Zeit stärker. Wir mögen es, sie zu untersuchen und zu transformieren.

AC: Warum gerade Samurai und Samurai-Flaggen?

WS: Das von den Samurai inspirierte Konzept ergab sich spontan, obwohl ihre Ideen und ihre Ästhetik immernoch einen großen Einfluss auf die japanische Kultur haben. Wir besuchten Samurai-Häuser und in einem Museum stießen wir auf Illustrationen auf Samurai-Flaggen aus dem 16. Jahrhundert, deren beeindruckende Designs unterschiedliche Clans identifizierten und als Kommunikationsmittel dienten. Mit diesen Objekten drückten sie ihre Macht aus. Die Samurai stellten Flaggen aus unkonventionellen Materialien her und verwendeten beeindruckende Handwerkstechniken. Die Farben und Formen haben symbolische Bedeutungen. Die Vorbereitungen auf eine Schlacht umfassten ein aufwendiges Ankleide-Ritual und die Schlacht selber war wie eine spektakuläre Performance.

Wir entschieden uns schließlich ein zeitgenössisches Pendant zu diesen Flaggen zu kreieren, indem wir sie in ‚Licht-Pfeiler’ — eine Lampenfamilie — übersetzten, die die Epoche, in der wir leben, symbolisieren. Heutzutage werden die Auswirkungen von der Globalisierung und der Individualisierung in Frage gestellt und Machtverhältnisse, Identifikation und Kommunikation sind wichtiger als jemals zuvor.

Die fertige Kollektion besteht aus sieben Licht-Pfeilern, welche sich auf die sieben Prinzipien der Samurai beziehen. Die Installation, die bei Kreo ausgestellt wurde, hatte einen mysteriösen, eigenartigen Charakter, sie kommunizierte und spiegelte. Die Formen führten in die Irre und absorbierten.

AC: Könnten Sie uns bitte das Konzept Mitate erklären?

WS: ‚Mitate’ bedeutet ein Objekt anders zu betrachten als es beabsichtigt ist. Es bedeutet, ein Objekt als etwas anderes wahrzunehmen, damit es auf eine völlig neue Art erlebt werden kann. In Mitate kann man unterschiedliche, versteckte Schichten an Bedeutung entdecken und diese Kombinationen haben häufig einen überraschenden und humorvollen Effekt. Bekannte Beispiele für Mitate sind ikebana und chado. Ikebana ist die japanische Kunst des Blumenarrangements und ist symbolisch für die Ganzheit der Natur. Ihr Aufbau erzählt eine Geschichte. Chado ist eine Teezeremonie, in der ein alltägliches Ereignis in Kunst verwandelt wird. Diese Bräuche sind von großer Bedeutung, um die japanische Kultur zu verstehen.

AC: Was ist der Hauptgedanke hinter der Materialauswahl bei Mitate?

Die Materialien jeder Lampe wurden sorgfältig ausgewählt. Egal, ob sie reflektieren oder spiegeln, absorbieren oder durchsichtig sind, jedes Material kreiert einen besonderen Beleuchtungsstil. Wir haben zum Beispiel mit einer samtigen, weichen Oberfläche gearbeitet, die das Licht nicht reflektiert, sondern es wie ein schwarzes Loch zu verschlucken scheint, während die Struktur eine mysteriöse Tiefe erschafft. Und wir haben einige gewöhnliche Materialien gewählt, wie zum Beispiel Reflexionsfolie, die normalerweise für Verkehrsschilder verwendet wird. Die Samurai waren Meister darin, gewöhnliche Materialien aufzuwerten, indem sie besondere Verarbeitungen oder Techniken benutzten.

Alle Lampen haben Ständer aus Rohren, die auf eine funktionale und dekorative Art mit Seilen verbunden sind. Wir haben zwei unterschiedliche Arten von Füßen entworfen, in die die Ständer gesteckt werden. Der eine Fuß erinnert an einen traditionellen tokonoma Altar, der Raum schafft, um unterschiedliche Objekte zu verstauen. Der andere besteht aus Polybeton und hat vorsichtig geschnittene Ecken, an denen man die Struktur des Steines erkennen kann.

AC: Ich habe gehört, dass die Lichtformen aus der Entfernung ein ganz anderes Gefühl vermitteln als sie es aus der Nähe tun. Könnten Sie das bitte ausführen?

WS: Aus der Ferne dominieren die schlichten Umrisse und Formen und das Licht spielt auf eine bestimmte Weise mit ihnen. Wenn man näher kommt, sieht man allerdings die Details aus der Handwerkskunst und die besonderen Verarbeitungsweisen, besonders dann, wenn die Lampen nicht leuchten. Wenn sie strahlen, dann werden sie aber richtig lebendig.

Ich weiß noch nicht, wie die Leute sie erleben werden. Clément Dirié [Redakteur bei JRP|Ringier] beschreibt es folgendermaßen: ‚Die Mitate Kollektion erfreut durch Hinweise und Kuriosität. Wenn wir uns der Kollektion nähern, werden die leuchtenden Figuren vertraut – eine Vertrautheit, in der wir das Andere erkennen. Dieses Gefühl wird nicht von unserem Alltag oder unserer Herkunft hervorgerufen, sondern durch unsere Faszination für und unsere Vorstellung von der Andersartigkeit einer fremden Kultur, die uns verführt und gleichzeitig unser Urteilsvermögen besiegt. Es ist keine einfache Form der Verführung.’

AC: Jede Lampe hat ihre eigene, starke Identität, etwas, das von den sieben Prinzipien des Ehrenkodex der Samurai inspiriert wurde. Können Sie erklären, wie sich diese Prinzipien in den Materialien und dem Aufbau einiger der Einzelstücke ausdrücken?

WS: Ja, jedes der Licht-Totems illustriert eines der sieben Prinzipien des bushido, ein japanisches Wort für die Lebensweise der Samurai, für die sie bekannt sind. Als die ersten sieben Prototypen aufgestellt waren, haben wir sie angeschaut und gespürt, dass sie alle eine sehr starke Persönlichkeit hatten, mit jeweils eigenen Eigenschaften und Gewohnheiten.

Jeder Name wird intuitiv nach dem, was jede Lampe darstellt, vergeben. Die ruhige, runde Rohrleuchte Gi (Cord Lamp) bedeutet ‚richtige Entscheidung’ die Makoto (Reflection Lamp) steht für Wahrheit und die absorbierende und spiegelnde YUU  (Mirror Lamp) handelt von Mut.

Letztendlich hofften wir (...), dass jedes Stück den Benutzer dazu auffordert, eine engere Beziehung mit ihm einzugehen und dass jedes Objekt den Produktionsprozess zelebriert, durch den es entstanden ist. AC: Was hofften Sie, würden die Lichtformen bei den Betrachtern auslösen? Und was sollten die Menschen von der Ausstellung mitnehmen?

WS: Wir hofften, dass sie eine verzauberte Wahrnehmung unseres Alltags zwischen zwei Kulturen hervorrufen würden. Dass zunächst eine visuelle Überraschung entstehen und dann die versteckten Schichten an Bedeutung hervortreten würden.

Letztendlich hofften wir wie bei all unseren Arbeiten, dass jedes Stück den Benutzer dazu auffordert, eine engere Beziehung mit ihm einzugehen und dass jedes Objekt den Produktionsprozess zelebriert, durch den es entstanden ist.

Unserer Meinung nach ist die Verantwortung eines Designers zunächst, dass er oder sie ein Gespür für die Ausdrücke einer Epoche hat und außerdem ein Gespür dafür, wie die Menschen mit ihrer täglichen Umgebung interagieren. Welcher Gebrauch wird von Dingen impliziert und welche Gefühle und Assoziationen rufen sie hervor? Basierend auf dem, was wir beobachten, fangen wir an zu fantasieren, wozu Dinge werden können, um unseren Alltag zu verbessern.

Wie können wir subtil das Gewöhnliche in etwas Außergewöhnliches verwandeln? Wie können wir Unbedeutendes in etwas Bedeutendes verwandeln? Aus neutraler Funktionalität wird eine poetische Geste, die einen bedeutsamen Dialog zwischen den Benutzern und Objekten ermöglicht.

Wir glauben, dass Schönheit eine der wichtigsten Kräfte ist, um diese Verbindung zu erschaffen. Manchmal versteckt sie sich in der besonderen Atmosphäre, die durch ein Material entsteht, manchmal in der taktilen Eigenschaft der Haut, manchmal in der unkonventionellen Verwendung von Materialen, manchmal in der Genialität des Systems— und häufig in der Kombination dieser Aspekte.

  • Text von

    • Anna Carnick

      Anna Carnick

      Als ehemalige Redakteurin bei Assouline, der Aperture Foundation, Graphis und Clear feiert Anna die großen Künstler. Ihre Artikel erschienen in mehreren angesehenen Kunst- und Kulturpublikationen und sie hat mehr als 20 Bücher herausgegeben. Sie ist die Autorin von Design Voices und Nendo: 10/10 und hat eine Leidenschaft für ein gutes Picknick.
  • Übersetzung von

    • Annika Hüttmann

      Annika Hüttmann

      Annika ist umgeben von skandinavischem Design zwischen Norddeutschland und Südschweden aufgewachsen. Für ihr Literaturstudium zog sie nach Berlin und entdeckte dort ihre Leidenschaft für deutsche Vasen aus den 1950ern-70ern, von denen sie inzwischen mehr als 70 Stück besitzt.

Designbegeisterte hier entlang