Inspiriert von der Vergangenheit formen chinesische Designer die Zukunft.


Design ohne Grenzen

Von Ana Domínguez Siemens

Es gibt Leute, denen es sicher nicht gefällt, wenn ich sage, dass das berühmte Sunflower Seeds Projekt des Künstlers Ai Weiwei für das Tate Modern genau so sehr von Design handelte wie von Kunst. Fakt bleibt jedoch, dass es bei dem Projekt im Kern darum ging, alle Leute aus einer Gemeinschaft dafür einzustellen, seine Porzellan-Samen herzustellen und uns dadurch einzuladen, etwas genauer auf das Phänomen „Made in China“ zu schauen. Und dieses Phänomen hat weit mehr mit Design zu tun als mit Kunst. Um meine Behauptung noch weiter zu verteidigen, weise ich immer gerne darauf hin, dass der Künstler an der Parsons in New York Design studierte.

Es ist in den letzten Jahren deutlich geworden, zum Beispiel durch die Ausstellung China Design Now im V&A’s, dass Design in China bis vor kurzem nicht existierte – zumindest nicht laut der im Westen entwickelten Definition. In Europa und den USA wurde Kunst über andere „geringere“ kreative Betätigungen erhoben. In China allerdings war Design niemals eine unabhängige Disziplin und hat schon immer eine wichtige Rolle auf dem gesamten künstlerischen Spektrum gespielt.

China ist ein Land, das sich an einem wichtigen Punkt der Entwicklung befindet, immer stärker im Kontakt mit der Außenwelt steht und dadurch seine kreative Kultur verändert. 2006 verkündete der ehemalige Präsident Hu Jintao, China würde seine Business-Strategie von kostengünstiger Fertigung zu Innovation und Markenbildung verändern, weg von „Made in China“ und hin zu „Designed in China“. Es ist möglich, dass diese wirtschaftlich motivierte Ansage zu einer engeren Definition von Design geführt hat, welche auf dem konventionellen westlichen Modell des 20. Jahrhunderts beruht. Die wirklich einzigartigen und beeindruckenden chinesischen Designarbeiten, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, zeigen jedoch, dass die Grenzen zwischen Kunst und Design verschwimmen, wodurch sie eine ähnliche Transformation abbilden wie die, die sich hier im Westen abzeichnet.

China ist ein Land, das sich an einem wichtigen Punkt der Entwicklung befindet, immer stärker im Kontakt mit der Außenwelt steht und dadurch seine kreative Kultur verändert. Die aufstrebende Designszene in China hat eine Anzahl an Personen aus dem Westen angezogen, die dabei geholfen haben, dessen internationalen Reiz noch weiter zu verstärken. Aric Chen, ehemaliger Kreativdirektor der Beijing Design Week und zurzeit Kurator für Design und Architektur im M+, einem neuen Museum für visuelle Kultur in Hong Kong, ist ein Paradebeispiel hierfür. Geboren in Chicago, spielte Aric eine wichtige Rolle dabei, die chinesische Designkultur zu fördern und er sieht die Neuartigkeit dieser Disziplin in China als Vorteil. Er erklärt: „Ich finde die Situation hier unglaublich spannend, auch wenn Design hier noch nicht wirklich definiert ist. Auf der einen Seite bringt das gewisse Schwierigkeiten mit sich, auf der anderen Seite bietet die fehlende Trennung von bildenden und angewandten Künsten auch die Möglichkeit für neue Entdeckungen zu einer Zeit, in der der Rest der Welt sich immer mehr dafür interessiert, was passiert, wenn die Grenzen zwischen Disziplinen verschwimmen. In China geht Design weit über Möbel und Konsumprodukte hinaus und widmet sich sozialen, technischen, wissenschaftlichen und sogar performativen Praktiken, die vorher vielleicht gar nicht als Design betrachtet worden sind. Da Design in China so wenig Ballast mit sich bringt, ist es offen dafür, zu diesen international wachsenden Überlegungen, was Design sein kann, beizutragen.”

Die momentane Situation ist ideal für junge, experimentelle Designer, die sich mit der Frage auseinandersetzen, was es heutzutage bedeutet chinesisch zu sein. Wenn sie in der Vergangenheit nach Inspiration und Referenzen suchen, dann überspringen sie das 20. Jahrhundert häufig komplett, um stattdessen auf Typologien, Prozesse und dekorative Motive zu schauen, die mehrere Jahrhunderte alt sind. Sie bearbeiten Paradigmen aus alten Traditionen, welche in modernen Zeiten in den Hintergrund gerückt sind, und bringen sie zurück in den Kontext und Mittelpunkt des 21. Jahrhunderts.

Prosperity 2012 von Caroline Cheng Mit freundlicher Genehmigung von Themes & Variations
Dieser aufregende neue Trend bleibt international nicht unbemerkt. Letztes Jahr kuratierte Liliane Fawcett in ihrer Londoner Galerie Themes & Variations eine Ausstellung mit dem Titel Chinese Design Today. Während ihrer Recherchen stellte sie eine Liste häufiger konzeptioneller Schwerpunkte junger Designer in China zusammen: „Upcycling“, beispielsweise auf die Art, wie Gu Yeli weggeworfenen Möbeln, die sie auf der Straße findet, mit bunter Wolle neues Leben einhaucht, „Altes und Neues mischen“, wie es zum Beispiel Shao Fan, Jia Li, Yang Ke und Xiao Tianyu machen, wenn sie traditionelle Elemente in ihre Arbeiten integrieren, „Politische Untertöne“, zu sehen bei Li Naihan, die als Kommentar zu der Angst vieler Künstler in Beijing davor, dass ihre Studios entdeckt und zerstört werden, Holzkisten auf Rädern in Möbel verwandelte, „Die Vergangenheit zurückweisen“, was durch Künstler wie Zhang Zhoujie verkörpert wird, die sich ausschließlich mit neuen Technologien beschäftigen und „Experimente mit Porzellan“, wofür Li Lihongs in Porzellan wiedergegebenen und mit chinesischer Dekoration verzierten ikonischen westlichen Logos und vielleicht auch der legendäre Ai Weiwei Beispiele sind.

Fawcett betonte auch, dass immer mehr chinesische Hochschulen (insbesondere die Central Academy of Fine Arts) inzwischen Designprogramme anbieten, was in China zu einem größeren Bewusstsein und einer veränderten Wahrnehmung in Bezug auf Design führt. Tatsächlich gibt es in China momentan mehr Designstudenten als irgendwo sonst auf der Welt. Zudem schätzt eine steigende Anzahl wohlhabender chinesischer Konsumenten gut designte Produkte. Fawcett betrachtet die Zukunft optimistisch: „Im Westen fehlt uns die Frische ihrer Herangehensweise, sie haben nicht den gleichen Zynismus wie wir. Und sie nehmen sich selber noch nicht zu ernst.“

Eine weitere wichtige Unterstützerin von chinesischem Designtalent ist Isabelle Pascal, die Besitzerin des Wuhao Curated Shop in Beijing. Sie hat Arbeiten vieler nennenswerter Designer ausgestellt und produziert, darunter Pin Wus bezaubernde Papierarbeiten, Nick Wus außergewöhnliche Tapeten und Zhang Chens fein gearbeitete Möbel aus wertvollen Hölzern. Pascal beschreibt den Geist ihrer Designer wie folgt: „Chinesische Designer sind deswegen so erfrischend, weil sie eine unvergleichliche Reinheit und Hingabe bei allem, an dem sie gerade arbeiten, zeigen. Sie entwerfen und kreieren des Entwurfs und der Kreation halber und denken nicht immer an die Produktion. Mir ist außerdem aufgefallen, dass es ihnen wichtig ist, in Kontakt mit ihren Wurzeln zu treten und in Chinas mehr als 5000 Jahre alter Tradition der Innovation und des Erfindungsreichtums zu graben, um das Alte und das Neue zu verschmelzen, zu vermischen oder zusammenzufügen und dabei sowohl handwerkliche als auch moderne Techniken zu verwenden. Das Ergebnis ist etwas komplett Zeitgemäßes, das aber gleichzeitig auch traditionell und vollkommen chinesisch ist.

Es steht außer Frage, dass das Handwerk eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des chinesischen Designs spielt. Vielleicht ist dies eine Reaktion auf Chinas momentanen Ruf eine Kultur der Kopien zu sein. Indem sie sich auf traditionelles Handwerk konzentrieren, können chinesische Designer sich auf ein einzigartiges und reiches Erbe beziehen, das nur ihnen gehört, während neue Ausdrucksformen entstehen wenn überlieferte handwerkliche Techniken mit neuen Technologien und Materialien kombiniert werden. Für Pascal ist das der entscheidende Weg, um die Zukunft des chinesischen Designs zu erforschen. Dies wird im Mittelpunkt ihrer kommenden Ausstellung New for 2013 stehen, einer Zusammenarbeit mit Elaine Ng, einer in Hong Kong ansässigen Designerin, die sich auf intelligente Textilien spezialisiert hat. „Wir arbeiten an einer Serie intelligenter Produkte, die handwerklich hergestellt und von Natur aus organisch sind, aber außerdem die neuesten Technologien beinhalten. Es geht um intelligentes Design, Poetik und um den Prozess.“

Momentan gibt es nur sehr wenige Designer aus China, die mit globalen Designfirmen zusammenarbeiten. Eine der Ausnahmen ist das in Shanghai ansässige Studio Neri and Hu, dessen Arbeiten traditionelles Erbe in einem zeitgenössischen Kontext erforscht. Sie haben Designs für Classicon, BD Barcelona, Meritalia, Swarovski und Moooi produziert. Während es zweifellos spannend wäre, wenn noch mehr chinesische Designer diese Grenze überschreiten würden, scheint es fast so, als wäre ist nicht mehr die Voraussetzung, um international Bedeutung zu erlangen. Designer wie Jeff Shi finden zunehmend einen Weg ins westliche Bewusstsein. Shis Liquefied Bamboo Arbeiten, welche innovative Lösungen für den gesamten Planeten bieten und für die er Spritzgussformen benutzt, um sie massenproduzieren zu können, erfreuen sich wachsender Aufmerksamkeit und Beliebtheit. Und die alten Grenzen, Kategorien und Schubladen scheinen immer irrelevanter zu werden.

  • Text von

    • Ana Domínguez Siemens

      Ana Domínguez Siemens

      Ana is an award-winning, Madrid-based design writer and curator who regularly contributes both to exhibition catalogues and publications such as AD España, Vogue España, Diseño Interior, and DAMn°.
  • Übersetzung von

    • Annika Hüttmann

      Annika Hüttmann

      Annika ist umgeben von skandinavischem Design zwischen Norddeutschland und Südschweden aufgewachsen. Für ihr Literaturstudium zog sie nach Berlin und entdeckte dort ihre Leidenschaft für deutsche Vasen aus den 1950ern-70ern, von denen sie inzwischen mehr als 70 Stück besitzt.