Ein Treffen mit dem Designer Anthony Bianco


Das Glück der zweiten Chance

Von Anna Carnick

Ich betrat das sonnenlichtdurchflutete Appartement und Studio des Bildhauers und Designers Anthony Bianco in Bushwick an einem Herbstnachmittag. Das Studio liegt über einem Fahrradshop und einem Botanica-Laden, über dessen Eingang eine gelbe Markise mit dem Schriftzug „Alles für deine spirituellen Probleme“ leuchtet. Im Hintergrund summt in regelmäßigen Abständen die J-Train Hochbahn vorbei.

Der ursprünglich aus Chicago stammende Bianco ist noch ein relativer Newcomer in Brooklyns neu entstandener Kreativszene. Und das, obwohl er schon seit mehr als fünf Jahren in New York lebt. In seinen ersten Jahren arbeitete er als Assistent des Glaskünstlers Jeff Zimmerman, eine Erfahrung, die laut Bianco zu „der Art Design führte, die ich mir seit jeher gewünscht hatte. Funktionale Arbeiten zu realisieren und dabei künstlerische Freiheiten zu genießen, das war aufregend.“ Er selbst wagte 2013 den Sprung in die Selbstständigkeit und eröffnete Bianco Light & Space.

Direkt beim Betreten von Biancos Studio standen wir zunächst vor drei handgemachten Lampen; Exemplare aus der ersten Kollektion des Studios. Von nahem betrachtet wirken die Lampen beinahe außerirdisch. Sie reichen bis auf Augenhöhe und stehen auf geometrischen Messingfüßen, die elegant in lange Schäfte übergehen und ihren Höhepunkt in den geblasenen Glaselementen finden – eine Reihe von Fünfecken, angeordnet in Paaren, Dreiergruppen usw.; angewinkelt und organisch – in lichtdurchlässigem Türkis, Smaragdgrün und Milchweiß. So entsteht ein futuristischer, anspruchsvoller Gesamteindruck, der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Doch es reicht schon ein paar Schritte zurück zu gehen und die Lampen sehen mit einem Mal wieder sehr weltlich aus, dafür jedoch wie aus der Zeit gefallen; eher wie aus den 1920ern statt aus den 2010er Jahren. Aus dieser Perspektive betrachtet bedienen sich die Entwürfe Biancos ganz klar dem Art déco mit seiner typischen mehrstufigen und schimmernden Ornamentik und der Anlehnung an die Formen von Hochhäusern, welche einen großen Einfluss auf die damalige Ästhetik hatten.

Für Bianco ist diese Gegensätzlichkeit kein Widerspruch, vielmehr ist sie vom Designer gewollt. Aussehen und Funktion entstammen im Kern zu gleichen Teilen der investigativen Suche nach dynamischer, modularer Form. „Es ist nicht meine Art, zu viel Bedeutung in eine Arbeit hineinzuinterpretieren. Mir geht es mehr darum, eine Form zu finden, die bereits von sich aus etwas darstellt, die eine Aussagekraft besitzt und von Wert ist. So bleibt die Interpretation offen und obliegt dem Betrachter. Durch das Weiterentwickeln und Fokussieren auf dieses eine Element, kann ich verschiedene skulpturale Formen ausarbeiten.“

Bianco fährt fort: „Es ist befreiend zu wissen, dass man sein ganzes Unternehmen nur mit der puren Liebe für eine Idee oder eine Form antreiben kann. Das ist so befreiend für mich und ist das, womit ich meinen Tag beginne – jeden Tag aufs Neue.“

Während wir reden, präsentiert er Papierstudien – einfache Formen sowie auch komplizierte Muster, beeindruckend gemalt oder freihändig skizziert – und es ist leicht, die Ähnlichkeiten zwischen den Originalzeichnungen und den fertigen Arbeiten auszumachen. „Ein großer Teil meines Arbeitsprozesses besteht im Zeichnen – Konzeptstudien, Formversuche, formale Figuren – und auch im Erschaffen von Skulpturen. Ich versuche meine Ideen auf Papier festzuhalten und das Konzept dahinter erst vollständig zu verstehen, bevor ich es um funktionale Aspekte erweitere.“

Ist er zufrieden mit seinem gezeichneten Entwurf, erstellt Bianco ein Papiermodell und spielt dabei so lange mit der Form und der Art der Zusammensetzung, bis er sich sicher ist, das Projekt in die nächste Phase - der Phase des Formgießens – überführen zu können. Dies ist üblicherweise ein Prozess, der aus zwei Teilen besteht: Zunächst kommt eine härtere Holzform (meist aus Holzresten) zum Einsatz, die dabei hilft, Fehlerquellen in der Mechanik aufzuspüren. Schließlich wird eine strapazierfähige Graphitform den Glasarbeiten überreicht, um die finalen Elemente herzustellen.

Darauf angesprochen, dass die meisten seiner Kollegen ihre Entwürfe bevorzugt am PC erstellen statt auf Papier, lächelt Bianco: „Ich bevorzuge es elementarer, analog. Das ist ein weiterer Punkt, den ich an meinem Arbeitsprozess so liebe, daran kreativ zu sein und mein eigenes Unternehmen zu führen, dass niemand mir vorwirft, etwas falsch zu machen. Es ist eben Glas. Du musst zwar die Grundlagen lernen, aber danach gibt es keine feste Regeln.“

Inside Bianco's Bushwick studio Photo © Giada Paoloni for L'AB/Pamono

Obwohl Bianco es lieber dem Betrachter überlässt, seine Arbeiten eigenständig zu interpretieren, gibt er dennoch bereitwillig seine Einflüsse Preis; dazu gehören Bildhauer wie Alexander Calder und Barbara Hepworth sowie der italienische Futurismus, islamische Endlosmuster und Kaligraphie. So benannte er die Stücke seiner ersten Kollektionen mit arabischen Wörtern und Wörtern in Sanskrit. Beispielsweise stammt der Name der  Yassin Torchiere mit jadefarbenem Schirm aus dem Sanskrit und bedeutet „das Geheimnis liegt im Licht“. Bianco macht deutlich, dass die Annäherung an diese Sprachen „Bände über Aspekte meiner Arbeit spricht, die sonst nicht sichtbar wären. Ich interessiere mich für eine mehrdeutige Übersetzung des Gottesbegriffs und verweise auch auf Sterne und astrologische Elemente, die eine höhere Existenz aufgreifen, nicht nur die irdische.“

Als ich von ihm wissen möchte, wann diese Thematiken für ihn an Bedeutung gewonnen haben, erzählt er mir von der Zeit vor etwa sechs Jahren, als ihn ein dramatischer Autounfall fast das Leben gekostet hätte. Er wurde mit seinem Fahrrad von einem Auto erfasst, war in der Folge bewegungsunfähig und beinahe ein Jahr ans Bett gefesselt. „Nach dem Unfall fühlte es sich an, als hätte ich eine neue Chance bekommen. Ich las über Religion und hinterfragte meine ganze Existenz und vieles von dem, worüber ich dachte in meinem Leben Bescheid zu wissen, änderte sich. Ich musste neu abwägen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente, für wen ich arbeitete und was ich produzierte. Physisch war meine Arbeitsleistung durch den Unfall wirklich limitiert. Selbst heute noch ist der Umfang an Arbeit, den ich zu leisten im Stande bin, sehr begrenzt. Aber ...“, so Bianco, „das erlaubte mit auch mich wieder mehr auf den Zeichenprozess zu konzentrieren. Zwar war ich völlig bewegungsunfähig, doch mein rechter Arm funktionierte und ich konnte aufrecht sitzen, also sagte ich: 'Reicht mir das verdammte Papier! Ich fang' an zu zeichnen.' Und so schuf ich einen ganzen Berg von Zeichnungen.“, sagt er und deutet auf eine Gruppe aus gerahmten Farbzeichnungen, auf welchen jene Formen zu sehen sind, die zu seiner ersten Kollektion wurden. „Das trieb mich wirklich an.“

Zur Zeit des Unfalls arbeitete Bianco in Chicago als Set Designer für Unternehmen wie Crate &  Barrel und CB2 und er war glücklich. Nach seinem Unfall jedoch war er „körperlich nicht in der Lage diesen Job fortzuführen.“ Er realisierte umgehend, dass er am liebsten eigenverantwortlich arbeiten möchte. Idealerweise in den Bereichen, die er erlernt hatte: Bianco hatte Glasarbeit, Bilderhauerei und Holzmöbel-Design am California College of Arts studiert und 2004 mit einem Bachelor abgeschlossen. „Ich entschied mich, dass ich irgendwie einen Weg finden müsse, diese Idee Wirklichkeit werden zu lassen, also zog ich direkt einen Tag nach meiner Entlassung nach New York, wo ich sofort damit begann, für Jeff Zimmermann zu arbeiten. So gelang es mir schließlich, alle Punkte miteinander zu verknüpfen und meine Fähigkeiten als Glasbläser und Designer zu verbinden.“

Rückblickend meint er, „Es fühlt sich wirklich dankbar an, wenn ich mich daran erinnere, dass es den Moment gab, in dem ich dachte, nie wieder als Glasbläser arbeiten zu können und dann zu sehen, wo ich heute stehe; meine Geschicklichkeit, meine Fähigkeiten als Bildhauer und Künstler und meine kreativen Prozesse nutzen zu können.“

Irgendwelche Ratschläge oder Tipps für jemanden, der ebenfalls mit dem Gedanken spielt, in die Designwelt einzutauchen? „Es ist eine aufregende Zeit, um als aufstrebender Designer in New York zu arbeiten“, meint Bianco. „Folge einfach deinem Herzen und bleib bei deinen Talenten!“

Die Fotos, die Anthony Bianco bei der Arbeit zeigen, wurden bei Brooklyn Glass in New York aufgenommen.

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    • Anna Carnick

      Anna Carnick

      Als ehemalige Redakteurin bei Assouline, der Aperture Foundation, Graphis und Clear feiert Anna die großen Künstler. Ihre Artikel erschienen in mehreren angesehenen Kunst- und Kulturpublikationen und sie hat mehr als 20 Bücher herausgegeben. Sie ist die Autorin von Design Voices und Nendo: 10/10 und hat eine Leidenschaft für ein gutes Picknick.
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    • Giada Paoloni

      Giada Paoloni

      Die gebürtige Italienerin Giada ist Fotografin und Stylistin mit einer großen Leidenschaft für Reisen, Speisen und Kunst.

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