Michael Barthel untersucht die experimentelle Mischung aus Wissenschaft, Musik und Bildung in Björks multimedialer Symphonie Biophilia


Biophilia – Björks multimediale Symphonie

Von Michael Barthel

Fast zwei Jahre nachdem die isländische Pop-Ikone Björk ihr achtes Album Biophilia veröffentlicht hat, scheint dessen Erfolg ungebrochen, was allerdings nicht daran liegt, dass eine Reihe von Hit-Singles dessen Lebensdauer verlängert hätten. Stattdessen ist dies dem Biophilia Educational Program (Biophelia Bildungsprogramm) zu verdanken, welches aus einem Lehrplan und einer Museumsausstellung besteht und sich an 8-15 Jährige richtet. Anhand der Bilderwelt und der Gedanken in Björks Album sowie einer Suite aus interaktiven iPad Apps, welche ein eigenes Multimedia-Album bilden, lernen die Kinder etwas über Musik und Wissenschaft. Die Ausstellung öffnete vergangenes Wochenende erstmals an der Westküste, im Museum Of Contemporary Art in Los Angeles, die Türen und im Rahmen der Eröffnung des Biophilia Erlebnisses in L.A. fanden vier Auftritte von Björk statt.

Björks vorherige Alben und Projekte vermischten ebenfalls ein breites Spektrum an kreativen Formen (insbesondere ihre gemeinsame Arbeit mit ihrem Partner Matthew Barney für Drawing Restraint 9), aber dieses ist das erste, dass einen Bildungsauftrag enthält. Charakteristisch für Björks Stil vermeidet das Biophilia Bildungsprogramm jedoch seichte Didaktik wie man sie etwa bei Kindersendungen finden würde („Hallo Kinder, lasst uns mit Björk etwas über das Sonnensystem lernen!“) und bietet stattdessen pointiert und originell die These an, dass die Struktur der Musik die der Natur spiegelt, vom Aufbau der Zellen bis hin zum Lauf der Planeten.

Wer sich die Biophilia Suite heruntergeladen hat, konnte all dies selbst erleben. Die App für die Sonnenwende beispielsweise lässt einen Linien zeichnen, die den Saiten einer Harfe entsprechen und je nach Länge verschiedene Noten hervorrufen. Anschließend bringt man Planeten in ihre Umlaufbahnen, worauf diese jede Note zyklisch zu unterschiedlichen Zeiten spielen, je nach der Geschwindigkeit, mit der sie sich auf der Umlaufbahn bewegen. Sowohl bei Konzerten als auch in der Ausstellung wird dies durch ein neues Instrument, gesteigert, welches von Andy Cavatorta gebaut wurde und Pendel verwendet, um die Harfe zu spielen. Es macht die Schwerkraft sichtbar und zeigt, wie die Rhythmen der physischen Welt einen Einfluss darauf haben, wie wir Musik machen.

Natürlich ist keines dieser Elemente wirklich neu. Benjamin Brittens Young Person's Guide to the Orchestra (Orchesterführer für junge Leute) verwendete Musik um, naja, Musik zu lehren (besonders den Aufbau und die zugehörigen Klangfarben der verschieden Gruppen innerhalb eines Orchesters). Und die Wissenschaft hat von Rembrandts Die Anatomie des Dr. Tulp bis hin zu Wim Delvoyes Cloaca, einer „Verdauungsmaschine“, visuelle Künstler inspiriert. Aber Björks Kombination fühlt sich neu an. Teilweise liegt dies daran, dass der Schwerpunkt nicht nur auf den individuellen wissenschaftlichen Gedanken der Lieder liegt, sondern es um Wissenschaft an sich geht: Um E.O. Wilsons "Biophilie-Hypothese“,  welche eine natürliche Verbindung zwischen der Menschheit und anderen Lebewesen postuliert. Es ist schwierig diesen Gedanken mit nur einem Album zu kommunizieren, aber wenn er mit diesen expliziten wissenschaftlichen Verbindungen gepaart wird (die App für Virus zeigt beispielsweise wie Zellen infiziert werden), wird Björks übergeordnete Aussage viel verständlicher.

Es wirkt nicht wie hohe Kunst, sondern vielmehr wie eine sehr coole Museumsausstellung. Aber lernt man daraus wirklich etwas? Die Stadt Reykjavik scheint davon überzeugt zu sein, denn sie hat entschieden das Biophilia Bildungsprogramm über drei Jahre in allen mittleren Schulen des Gebietes anzuwenden. Eine Anfang diesen Jahres gestartete Kickstarter Kampagne die die Umwandlungen der teuren iPad App für Plattformen, die zugänglicher für Schulen in ärmeren Gemeinden sind, finanzieren sollte, blieb weit unter ihrem Ziel. Es gibt Kritik an dem Programm, es sei weniger etwas, das den Kindern beim Lernen hilft und stattdessen lediglich etwas, von dem wir uns wünschen es sei lehrreich.

Letztendlich ist das wohl auch nicht wirklich der Zweck des Biophilia Bildungsprogrammes. Niemand behauptet, dass Björks Album traditionelle wissenschaftliche oder musikalische Ausbildungen ersetzen könne. Seine Existenz führt nicht weg vom tatsächlichen Wissenserwerb im Bereich der Astrophysik. Aber es ist ein konkretes Beispiel für das Potenzial von Kunst. Die Homepage des BEP zitiert die Reaktion eines Schülers aus Buenos Aires auf die Ausstellung: „Man fühlt sich frei; Freiheit, weil man sich ausdrücken kann wie man möchte.“ Das ist keine geringe Leistung. Biophilia, in all seinen unterschiedlichen Formen, gelingt es, die Grenzen zwischen Wissenschaft, Technologie, visueller Kunst und Musik auf eine Avantgarde-Weise aufzulösen und gleichzeitig in einer traditionellen pädagogischen Form zu kommunizieren, die zugänglich für Kinder ist. Es wirkt nicht wie hohe Kunst, sondern vielmehr wie eine sehr coole Museumsausstellung. Dass das Projekt auf diesem Level funktioniert, während es sich auch als Kunst bewährt, ist eine bemerkenswerte Leistung. Es bleibt abzuwarten, ob irgendjemand wirklich etwas über  Plattentektonik von Biophilia lernt, aber es macht eine kraftvolle Aussage über die Verbundenheit der unterschiedlichen Kanäle durch die wir die Welt erleben.

  • Text von

    • Michael Barthel

      Michael Barthel

      Michael has written about pop culture and politics for the Village Voice, Salon, the Awl, and elsewhere. He is currently a columnist for Bullett, and is getting his PhD in communication from the University of Washington.
  • Übersetzung von

    • Annika Hüttmann

      Annika Hüttmann

      Annika ist umgeben von skandinavischem Design zwischen Norddeutschland und Südschweden aufgewachsen. Für ihr Literaturstudium zog sie nach Berlin und entdeckte dort ihre Leidenschaft für deutsche Vasen aus den 1950ern-70ern, von denen sie inzwischen mehr als 70 Stück besitzt.

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